Sex sells – Lebensperspektive Prostitution?

Eigentlich hat das Internet ja auf alles eine Antwort – insbesondere, wenn es um Sex geht. Wer aber auf die Suche nach Statistiken zur Prostitution in Deutschland geht, wird enttäuscht. Kaum belastbare Zahlen, höchstens grobe Schätzungen die je nach Quelle stark variieren. Wie viele Prostituierte gibt es überhaupt in Deutschland? Machen die ihre Arbeit freiwillig? Oder stimmt das häufig vermittelte Bild von der unterdrückten Sexarbeiterin die nur unter Zwang arbeitet? Fragen, auf die ich auch nach längerer Recherche kaum Antworten gefunden habe. Ich klappe also meinen Laptop zu und mache mich auf den Weg zu einer Adresse auf die ich bei der Suche gestoßen bin: Die evangelische Frauenhilfe in Westfalen betreibt mehrere Beratungs- und Anlaufstellen für Sexarbeiterinnen. Als ich im Zug sitze und wir Dortmund hinter uns gelassen haben, halten wir an unscheinbaren Bahngleisen in Orten, deren Namen ich nicht mal aus den Staunachrichten kenne. Westönnen, Werl, Hemmerde. Dazwischen weite Wiesen, kleine Dörfer die beim gemächlichen Tempo der Regionalbahn träge vorbei gleiten. Ich schaue aus dem Fenster. Hier, Prostitution? Wo das denn? Ich wäre mir unsicher, ob man nach 21:00 überhaupt noch etwas zu Essen auftreiben kann. Von Sex ganz zu schweigen. An der Endstation steige ich aus – Soest. Vorgärten, Einfamilienhäuser, Kleinstadtromantik vom Feinsten. Ich schaue auf mein Handy, befrage Google Maps kritisch. Doch, ich bin richtig.

Nach einigem Suchen finde ich das richtige Gebäude und auch Birgit Reichel, die Leiterin der Prostitutionsberatungsstellen Theodora und Tamar. Die evangelische Pfarrerin empfängt mich in einem hellen Besprechungszimmer, auf dem Tisch liegen bunte Flyer und Jahresberichte.

Als ich gestehe, dass ich mir wenig unter der Arbeitsweise der Beraterinnen vorstellen kann und auch vom Leben der SexarbeiterInnen kein klares Bild vor Augen habe, lächelt sie und lehnt sich zurück. „Wissen Sie, Prostitution… Was das so wirklich bedeutet, das können Sie und ich ja überhaupt nicht verstehen.“ Ich nicke. „Ist ja auch sehr unterschiedlich. Die Frauen mit denen wir es zu tun haben, das sind nicht die selbstbewussten, eigenständigen Frauen die man oft in den Medien wahrnimmt. Die, die vor der Kamera Interviews geben und Forderungen formulieren brauchen unser Beratungsangebot nicht.“ Sie führt aus, dass es bei Ihnen vor allem Armutsprostitution sei, die die Frauen ausüben. Aus dem Jahresbericht der Beratungsstelle Theodora geht hervor, dass 33% der beratenen Frauen nicht lesen und schreiben können – 28% haben nicht mehr als einen Abschluss der Grundschule erworben. Das macht andere Berufsperspektiven in Deutschland schwierig bis unmöglich – aber Sexarbeit, die geht. Mit dem Geld können die Frauen dann ihre Familien in Ungarn, Bulgarien oder Polen unterstützen und den Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen. Wenn die Kinder in Deutschland leben, ist oft auch das Jugendamt ein Thema – nehmen die mir mein Kind weg? Mutter und Prostituierte, geht das überhaupt gut?

Überhaupt sei der Umgang mit Ämtern schwierig. Und das nicht nur durch die Sprachbarriere – der ganze deutsche Sozialstaat ist für die Frauen oft schwierig zu durchdringen. Die Beraterinnen übernehmen dann eine Lotsenfunktion und vereinbaren gemeinsam mit den Frauen Termine, begleiten Sie zu Wohnungsbesichtigungen, zu Ämtern, zu spezialisierten Beratungsangeboten wie etwa einer Schuldnerberatung. In vielen Fällen ist eines der drängendsten Probleme aber auch die fehlende Krankenversicherung. Rund zwanzig Prozent der Klientinnen benötigen Unterstützung in der Kommunikation mit der Krankenkasse. Ob und wenn ja, wie häufig es im Umkreis die Möglichkeit zur kostenlosen, gynäkologischen Beratung gibt hängt stark vom Kreis ab. Manchmal organisieren die Gesundheitsämter eine monatliche Sprechstunde, manchmal finanzieren sie Gynäkologen der Umgebung. Insgesamt nimmt das Angebot aber ab. Die Beraterinnen leisten Aufklärungsarbeit, informieren über Präventionsmaßnahmen für sexuelle Erkrankungen und mögliche Symptome. Ersetzen können sie eine medizinische Betreuung aber natürlich nicht.

„Frau Reichel,“ setze ich an obwohl ich mir unsicher bin, wie ich das Thema am besten anschneide. „Die Frauen, die sie betreuen machen das aber… freiwillig?“ Sie nickt. „Wir arbeiten zum überwiegenden Großteil mit ganz regulär angemeldeten Frauen. Uns ist auch wichtig, das zu betonen: die Prostituierten sind eben nicht alle Gewaltopfer und Zwangsprostituierte. Grade in der aktuellen Debatte um das Sexkaufverbot nach schwedischem Modell wird das gerne so dargestellt, obwohl es nicht zutrifft. Die Frauen mit denen wir in den Beratungsstellen Tamar und Theodora Kontakt haben, sind mündig und durchaus in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Dementsprechend begegnen wir ihnen in der Beratung auch auf Augenhöhe; wer da als Beraterin  paternalistisch heran geht und bevormundend entscheiden will, ist bei uns einfach falsch.“

Die Zwangsprostitution und Menschenhandel gebe es aber natürlich trotzdem, fügt sie hinzu. Auf meine Frage, wie man diese verhindern könne schweigt Frau Reichel kurz. Dann schaut sie mich an. „Mehr Polizei.“ Bemerkt sie trocken und hält inne bevor sie fortfährt: „Wer versucht, mit neuen Verboten und Gesetzen dagegen vorzugehen hat das Problem nicht verstanden. Zwangsprostitution ist verboten, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, das sind ja alles längst Straftatbestände. Das bleibt aber so lange ein Papiertiger wie man das nicht vernünftig umsetzt.  Da brauchen Polizei und Ordnungsamt entsprechende Ressourcen um auch regelmäßig in diese Bertriebe zu gehen und nach dem Rechten zu schauen. Hier vor Ort funktioniert das teilweise sehr gut: wenn die Bordelle wissen, dass unangemeldete Kontrollen jederzeit kommen können, sind die mit der Einhaltung von Vorschriften und der Anmeldung tätiger Sexarbeiterinnen sehr penibel.“

Die Vorschriften, von denen Frau Reichel spricht, gibt es noch nicht besonders lange. 2002 gab das Prostitutionsgesetz Sexarbeiterinnen durch die Abschaffung der Sittenwidrigkeit erstmals die Möglichkeit, rechtskräftige Verträge mit Freiern abzuschließen und Zugang zu Sozialleistungen zu erhalten. Im aktuellen Prostituiertenschutzgesetz, welches 2017 in Kraft trat, wurden weitere Regularien festgehalten: so sind Frauen beispielsweise verpflichtet, die Tätigkeit unter Angabe ihrer Meldeadresse sowie des vollen Namens beim Ordnungsamt anzumelden und sich jährlich einer Gesundheitsberatung durch das zuständige Gesundheitsamt zu unterziehen.

Als Reaktion hagelte es Kritik. Interessensverbände wie beispielsweise der Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD) prangern eine stigmatisierende Wirkung der Melde- und Beratungspflicht an; man fühlt sich bevormundet, von Fachfremden zu Unrecht eingeschränkt und entmündigt. „Bei den neuen Auflagen für Prostitutionsstätten wurde im Gesetzestext überhaupt nicht differenziert.“ Gibt auch Frau Reichelt zu bedenken. „Vorher konnten sich drei Frauen gemeinsam eine Wohnung mieten und ihrem Gewerbe nachgehen. Man hat sich gegenseitig geschützt, war von Bordellbetreibern unabhängig und frei in der Zeiteinteilung. Das geht jetzt nicht mehr so einfach: viele der baulichen Regularien die in Großbordellen durchaus Sinn ergeben, sind im kleineren Rahmen zwar völlig überflüssig aber trotzdem gesetzlich vorgeschrieben: wer braucht in einer Vierzimmerwohnung einen Notrufknopf? Das wurde einfach nicht mitgedacht. Sinnvoller zum Schutz der Prostituierten wäre ein vernünftig finanziertes, langfristiges und flächendeckendes Beratungsangebot.“  Frau Reichelt seufzt. Die Beratungsstelle Tamar Südwestfalen musste ihr Angebot im Frühling einstellen – die Förderung war ausgelaufen, eine neue konnte nicht gefunden werden. Weder Land noch Bund fühlen sich zuständig, erklärt Frau Reichel. So bleibe die Finanzierung an der Kommune hängen, die diese jedoch selten wirklich übernehme. „Ab und an auf Spenden zurückgreifen zu müssen, das wäre kein Problem. Aber ständig betteln zu müssen um die Arbeit hier fortsetzen zu können, das sehe ich einfach nicht ein.“ stellt Birgit Reichel abschließend klar. „Da müssen andere Lösungen gefunden werden – wir tun hier ja etwas für die gesamte Gesellschaft und bespaßen uns nicht selber. Da möchte ich nicht um Almosen bitten müssen.“