Jung und unschuldig? Strafmündigkeit auf dem Prüfstand

Strafrecht und Wahlrecht gehören zusammen! Das habe ich in der Debatte zum Wahlalter 16 immer wieder gelesen. Welche Bedeutung sollte dem Alter im Strafrecht zukommen?

Altersgrenzen im deutschen Strafrecht

Im Strafrecht sind zwei Altersfragen zu trennen. Erstens, ab wann das Jugendstrafrecht angewendet werden kann, und zweitens, ab wann das Erwachsenenstrafrecht gilt. Jugendstrafrecht kann in Deutschland ab 14 angewendet werden. Das Erwachsenenstrafrecht kann ab 18 und muss ab 21 zur Anwendung gelangen. In dieser Übergangsphase kommt es darauf an, ob die jungen Menschen („Heranwachsende“) nach ihrer geistigen Entwicklung noch eher jugendlich als erwachsen sind oder ob sie eine nach den Umständen oder der Motivation jugendtypische Tat begehen.

Die Altersgrenze 14 ist in der Weimarer Republik festgesetzt worden; das Kaiserreich kannte gar kein eigenes Jugendstrafrecht, sondern bestrafte ab 12 alle nach dem Erwachsenenstrafrecht und sah für junge Menschen lediglich mildere Strafen vor. In Weimar dagegen wurde erstmals der Gedanke ausgeformt, dass bei Jugendlichen in erster Linie ein erzieherischer Zweck der Strafe sinnvoll ist und danach das gesamte Jugendstrafrecht ausgerichtet werden muss. Für Jugendliche gelten daher nicht einfach mildere Gesetze, sondern grundlegend andere.

Diese innovativen Reformen wurden unter der Herrschaft des Nationalsozialismus rückabgewickelt. Die Strafmündigkeit wurde auf 12 gesenkt und das Erwachsenenstrafrecht konnte schon ab 16 angewendet werden, wenn es die Machthaber für angemessen hielten. Grund für diese Verschärfungen war, in rohester Form, das Bedürfnis nach Sühne. Pädagogik und Resozialisierung wurden verdrängt durch den „Schutz des Volkes“ und das Strafbedürfnis des „gesunden Volksempfindens“.  Das Ergebnis war eine Grausamkeit gegenüber jungen Menschen, die mit Recht nichts mehr zu tun hatte. Auch in der sog. DDR wurde der Erziehungsgedanke in den beschönigend „Jugendwerkhöfen“ genannten Umerziehungslagern, die von ideologischer Gehirnwäsche, Entrechtung, körperlicher und sexueller Gewalt gekennzeichnet waren, pervertiert. Gegenüber dieser Deformation des Strafrechtsdenkens wurde in der Bundesrepublik Deutschland das Jugendstrafrecht als Instrument eines aufgeklärten Strafrechts wiederhergestellt.

Die Vorteile des Jugendstrafrechts

Ein weit verbreiteter Mythos ist, dass das Jugendstrafrecht auf eine faktische Nichtbestrafung hinausliefe. Tatsächlich kann man schon mit 14 zu zehn Jahren Haft verurteilt werden. Im Grenzbereich von Jugend- und Erwachsenstrafrecht, also bei 20/21-jährigen Tätern, gehen manche sogar davon aus, dass das Jugendstrafrecht zu härteren Strafen für vergleichbare Delikte führt.

In Wahrheit liegt der entscheidende Unterschied darin, dass viel zielgenauer auf die Tat des Jugendlichen reagiert werden kann. So kann die Verhängung der Strafe von dem weiteren Sozialverhalten abhängig gemacht oder durch Auflagen und Weisungen sehr genau auf die jeweiligen Lebensumstände reagiert werden. Noch stärker als bei Erwachsenen spielt es eine Rolle, ob die jeweilige Tat – mag sie äußerlich auch gleich schwer wiegen wie die eines anderes Täters – Ausdruck einer sich verfestigenden kriminellen Lebensführung oder ein Ausrutscher ist, auf den man ganz anders reagieren sollte. Entscheidend ist: Welche Behandlung benötigt der individuelle Jugendliche, um nicht wieder straffällig zu werden?

Die unterschiedlichen Bezugspunkte der Reife

Der geforderte Gleichlauf von Wahlalter und Anwendung des Erwachsenenstrafrechts (den es wegen der differenzierten Regelung bei Heranwachsenden bisher auch nicht gibt) scheint erstmal intuitiv: Wer die Rechte eines Erwachsenen will, sollte auch die Pflichten tragen. Allein: In einer Demokratie ist das Wahlrechts das vornehmste Recht; nicht wer es ausüben will, muss sich rechtfertigen, sondern derjenige, der es Menschen vorenthalten will. Umgekehrt ist das Strafrecht der Schlüssel zu den schärfsten Schwertern des Staates, sein Einsatz bringt die tiefsten Grundrechtsingriffe mit sich, welche die Rechtsordnung in Friedenszeiten kennt. Sein Einsatz muss gerechtfertigt werden.

Und bei dieser kritischen Überprüfung muss eben Berücksichtigung finden, dass bei einem Jugendlichen Persönlichkeit und Lebenswandel noch weitaus stärker geprägt werden können. Auch der Jugendliche wird in die Verantwortung genommen, nur eben auf eine altersangemessene und für ihn und die Gesellschaft sinnvolle, rationale Art und Weise. Ein Zusammenhang mit dem Wahlrecht besteht bei näherem Hinsehen nicht. Das Wahlrecht ist auf geheime Ausübung angelegt, der Wähler hat sich für seine Entscheidung nicht zu rechtfertigen. Maßstab ist deshalb ein ganz anderer als für die strafrechtliche Verantwortung: Die grundsätzliche Fähigkeit, an der demokratischen Willensbildung teilzuhaben. Das wird grundsätzlich jedem Bürger zugesprochen, unabhängig von politischem Interesse und politischer Bildung, und wird auch Straftätern und Menschen mit erheblichen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen zugestanden. Damit ist das Wahlrecht ab 16 ohne weiteres zu vereinbaren und eine Koppelung mit dem Jugendstrafrecht nicht angezeigt.

Rationales Strafrecht statt blinder Vergeltung

Geht es nach jenen, die in sozialen Netzwerken kommentieren, hat das Strafrecht vor allem möglichst hart zu sein. Besonders bei schwersten Delikten sind sadistische Vernichtungsphantasien verbreitet: Der Straftäter wird nicht mehr als Mitbürger und Mitmensch betrachtet, sondern als Monster, das mindestens weggesperrt, am liebsten gequält und getötet gehört. In den USA hat es der entmenschlichende Begriff „(sexual) predator“ sogar in das offizielle Vokabular geschafft.  Mit einem aufgeklärten liberalen Strafrecht hat das wenig zu tun.

Auch basiert die Verschärfungsrhetorik auf falschen Annahmen: Entgegen der landläufigen Meinung nimmt die Kriminalität in Deutschland, auch die Minderjähriger, keineswegs zu, sondern im Lichte der letzten Jahrzehnte sogar ab. So sind es denn auch von den Medien aufgegriffene Einzelfälle, die zum Beispiel der Forderung nach der Strafmündigkeit ab 12 neue Nahrung liefern. Die AFD-Bundestagsfraktion möchte einer aktuellen Initiative nach gar Kinder ohne Altersgrenze verhaften lassen können. Dass bei Kindern nicht die Justiz, sondern Eltern, Jugendämter und Schulen gefragt sind, wird gerne ausgeblendet.

Schließlich führt der Wunsch nach Härte auch zu kontraproduktiven Effekten. Die JVA ist meist kein Ort der Besserung, sondern der Verrohung. Menschen werden aus ihren sozialen Bindungen gerissen, verlieren Job, Freunde, Familie. Stattdessen müssen sie lernen, sich in einem rauen Umfeld zu behaupten, verstricken sich oft tiefer in kriminelle Milieus. Die populäre Forderung, mehr und schneller Freiheitsstrafen zu verhängen, führt also keineswegs zu mehr Sicherheit – wie die Inhaftierungsnation Nr. 1, die USA, beständig bestätigen.

Zurück in die Zukunft!

Meine Wunschvorstellung ist eine Strafjustiz, welche die nötigen Ressourcen hat, um auf Jugendliche schnell und wirkungsvoll einzuwirken. Dafür braucht es keine neuen Gesetze, sondern neue Polizisten, Staatsanwälte, Richter, aber auch Sozialarbeiter und Psychologen. Begraben wir die ewigen Debatten um die Herabsetzung der Strafmündigkeit und arbeiten wir an einem Strafrecht, das Mündigkeit fördert!

Marc Bauer (25) ist Jurist und Mitglied des Bundesvorstandes. Ihr erreicht ihn unter marc.bauer@julis.de