Autonomie

Ecrin und Azra gehen beide in Essen auf die Grundschule. Aus Ecrins Klasse werden der Statistiknach wahrscheinlich 27 von 30 Kindern auf das Gymnasium wechseln, aus Azras Klasse dagegen nur  3. Was die beiden Mädchen trennt? Die A40. Ecrin wächst südlich von ihr auf, Azra nördlich.Diese Straße, welche die meisten von uns wohl eher mit Staus und Baustellen verbinden, ist zugleich eine soziale Trennungslinie. Sie spaltet das Ruhrgebiet in diejenigen, die sehr wahrscheinlich später mal ein Leben in Wohlstand, Mündigkeit und Eigenverantwortung führen werden und denjenigen, deren Chancen hierauf weitaus geringer sind. Ähnliche Trennlinien gibt es auch in anderen Metropolen unseres Landes.

 

„Mündigkeit“ und „Eigenverantwortung“ das sind Begriffe die wir als Liberale zurecht sehr gerne und häufig verwenden. So glauben wir dass jeder Mensch prinzipiell in der Lage und auch willens ist sein Leben in die eigene Hand zu nehmen und sich durch Anstrengungen wirtschaftlichen Wohlstand zu erarbeiten. Auch finden wir dass jeder in seinem alltäglichen Leben frei sein sollte und der Staat nicht die Aufgabe hat Menschen durch übermäßige Verbote zu einem vermeintlich besseren Lebensstill zu erziehen.

 

Doch was braucht ein Mensch um diese Freiheiten zu nutzen? Um einen Beruf zu lernen der

seinen Vorstellungen entspricht? Um am sozialen Leben teilzunehmen? Sich politisch zu

engagieren? Die Antwort auf diese Fragen lässt sich vor allem mit einem Wort beschreiben:

Bildung. Nur wer die Welt um sich begreifen und reflektieren kann ist in der Lage mündige

Entscheidungen zu treffen, sowie für sich und andere Verantwortung zu übernehmen.

Doch wie kommt es, dass die Kinder aus Ecrins Klasse weitaus bessere Chancen haben dieses

Ziel zu verwirklichen als diejenigen welche in Azras Klasse gehen? Um das zu begreifen muss

man sich dem Thema aus verschiedenen Perspektiven widmen.

 

Soziologisch betrachtet ist die Breite gesellschaftlicher Gruppen in den letzten Jahren deutlich

vielfältiger geworden. Teilte Ralf Dahrendorf in den 1960er die Gesellschaft noch in wenige

Schichten auf, die sich vor allem in puncto Einkommen und Beruf unterscheiden, so spricht man

heute von sozialen Milieus. Diese charakterisieren sich nicht nur über Einkommensklassen,

sondern vor allem auch unterschiedliche Lebenswelten, soziale Stellungen sowie Haltungen zu

sich und der Gesellschaft. Letzteres wirkt sich unter Anderem auch auf die Frage aus, ob man an

Aufstiegschancen für sich und seine Kinder glaubt und ob man in der Lage ist, diese zu nutzen.

 

Bei Menschen in sozial schwächeren Milieus fehlt es an diesem Glauben oft. Sie sind oftmals

arbeitslos oder arbeiten in unsicheren und schlecht bezahlten Jobs und fühlen sich in vielen Fällen

wirtschaftlich und sozial nicht den Anforderungen der Gesellschaft gewachsen. Dies projiziert sich

auch auf die Kinder, welche auch außerhalb des Elternhauses kaum andere Zustände

kennenlernen. Dies zeigt sich z.B. daran, dass an einigen Grundschulen im Essener Norden der

Anteil von Kindern, deren Eltern Sozialleistungen beziehen bei mehr als zwei Drittel liegt.

 

Die aus dem Umfeld entstehende Resignation und Perspektivlosigkeit dieses Millieus der

Prekären ist dabei das Hauptproblem und unterscheidet die heutige Situation von der in der

sogenannten „Bildungsexpansion“ in den 1960/70er Jahren. Damals gelang durch massive

Investitionen in das Bildungssystem, Systemreformen und eine gesellschaftliche

Aufbruchstimmung vielen Menschen der gesellschaftliche Aufstieg, die zuvor eher in sozial

schwächeren Verhältnissen gelebt haben. Waren es damals vor allem Mädchen auf dem Land,

sind es heute vor allem bestimmte Viertel in Großstädten, wo soziale Probleme entstehen. Dabei

können Faktoren wie ein Migrationshintergrund oder Probleme mit der Bewältigung

wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen hinzutreten (z.B. Im Ruhrgebiet der

Strukturwandel).

 

Im Gegensatz dazu stehen sozial gehobene Milieus, in denen ein akademischer Werdegang als

selbstverständlich angesehen und die Kinder durch eine entsprechend leistungsorientierte

Erziehung hierauf von Anfang an vorbereitet werden. Neben den finanziellen Möglichkeiten (z.B.

um Nachhilfe zu beschaffen)spielt hierbei vor allem das sogenannte „kulturelle Kapital eine Rolle,

also Bildung die die Kinder im Elternhaus außerhalb der Schule erfahren. So wird Kindern in

diesen Milieus durchschnittlich in ihrer Kindheit 2000-3000 Stunden vorgelesen, was die

Sprachentwicklung fördert. Auch ist der Medienkonsum in diesen Familien oft kontrolliert und

lässt sich mit dem Schlagwort „Tierdoku und Tagesschau“ zuammenfassen- es werden also vor

allem hochwertige Inhalte konsumiert. Indirekte Faktoren wie z.B. eine gesunde Ernährung fördern

die Lernentwicklung zudem. All dies sind Vorteile, die Kinder wie Azra nicht genießen. Dies liegt

auch daran, dass neben der fehlenden Aufstiegsambition die Eltern oftmals auch selber nicht die

nötige Bildung mitbringen.

 

Was folgt nun aus diesen Erkenntnissen? Als Liberale müssen wir diese Chancenungleichheit im

Bildungssystem mit vollster Kraft bekämpfen und offensiv thematisieren. Es stellt die Legitimation

eines marktwirtschaftlichen Systems infrage, wenn die Chancen in diesem System aufzusteigen

nicht gerecht verteilt sind. Denn anders als von der politischen Linken behauptet, bekämpft man

Armut nicht indem man sie ein bisschen erträglicher macht, sondern indem man Menschen die

Gelegenheit gibt aus ihr rauszubrechen. Zwar muss dies jeder Einzelne vor allem mit eigener

Leistung schaffen, dies klappt aber nur wenn der Staat entsprechende Anstrengungen tätigt.

Hierbei können wir auch selbstbewusst argumentieren: So unternimmt die schwarz-gelbe

Landesregierung derzeit mit der Einführung von Talentschulen in sozialen Brennpunkten einen

wichtigen Schritt in diese Richtung, während rot-grün zwar von „Kein Kind zurücklassen“

gesprochen aber nichts gemacht hat. Leider haben jedoch Aussagen von führenden FDPPolitikern in den letzten Jahren (z.B. spätrömische Dekadenz bei Hartz IV Empfängern) dazu

beigetragen dass unsere Partei nicht mit diesem Thema sondern nur mit Wirtschafts-/

Steuerpolitik sowie Digitalisierung verbunden wurde. Das sind zwar ohne Frage wichtige Themen,

gleichzeitig funktioniert eine gute Wirtschaftspolitik nur, wenn durch Chancengleichheit alle

Menschen die Möglichkeit haben Wohlstand zu erlangen. Wir müssen daher unser Konzept von

Bildungspolitik als der besten Sozialpolitik die es gibt stärker in die Öffentlichkeit transportieren.

Bildungschancen für jeden ist liberale DNA pur und einen entsprechenden Stellenwert muss das

Thema bei uns auch einnehmen.

 

Niklas Geppert (19) studiert Jura an der RuhrUniversität Bochum und ist Mitglied des JuliKreisvorstandes im Rhein Kreis Neuss. Ihr

erreicht ihn unter